ZITAT
Regulierungsrausch
Der Kindermädchen-Staat
Rauchen, Alkohol, Essen, Videospiele: Überall mischt sich der Staat ein und volkspädagogische Pseudopolitik greift um sich. Doch die hat ihren Preis.
Ein Kommentar von Guido Bohsem
Spätestens im Herbst wird der Dauer-Streit über das Rauchverbot eine kleine Schwester bekommen. Nach der parlamentarischen Sommerpause will sich die Politik einem nächsten großen Projekt zur Verbesserung der Volksgesundheit widmen: dem Werbeverbot für Alkohol.
Angespornt durch Ideen der Europäischen Kommission erwägt auch die Bundesregierung ein Ende für Werbefilme im Fernsehen oder Kino, die zum Konsum einer bestimmten Schnaps- oder Biersorte ermutigen sollen. Trinkt der Fußballfan mehr, wenn er vor dem Länderspiel "das Bier der deutschen Nationalmannschaft" sieht?
In Baden-Württemberg spielt Ministerpräsident Günther Oettinger mit dem Gedanken, abends den Verkauf von Alkohol an Tankstellen zu verbieten. Wie das Rauchverbot sind auch die staatlichen Auflagen beim Alkohol-Konsum gut begründet.
Lustige Spots könnten die Schnapslust bei Kindern wecken und sie zu Trinkern machen, lautet ein Argument. Oettinger, der auch schon mal Bier aus einem Herrenschuh getrunken hat, will nächtliche Saufgelage an den Tanken des Ländles verhindern und Jugendlichen den (ohnehin verbotenen) Zugang zum Hochprozentigen erschweren.
Spaßfreiheit und Frugalterror
Der überfürsorgliche Staat, der in Amerika "Nanny State" - Kindermädchen-Staat - heißt, ist auf dem Vormarsch. Eine volkspädagogische Pseudopolitik greift um sich. Sie hat ihren Preis: Sie ist nicht nur verbunden mit weitgehender Spaßfreiheit und Frugalterror; sie geht auch einher mit der Einschränkung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung. Sie enthebt die Menschen von der oft anstrengenden Pflicht, selbst für das eigene Leben verantwortlich zu sein.
Tabak und Alkohol sind nicht die einzigen Konsumgüter, denen sich der Staat widmet. Auf Videospielen prangen Warnhinweise ob der brutalen und gewaltverherrlichenden Inhalte. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sorgt sich um magersüchtige Mädchen und schließt deshalb mit der Modebranche einen Pakt, um Fotos und Auftritte anorektischer Models zu verhindern.
Schmidt bekümmert aber auch das Gegenteil: Gemeinsam mit Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) fürchtet sie, dass es zu viele dicke Kinder in Deutschland gibt, ja dass die Deutschen insgesamt zu viel und zu schlecht essen. Seehofer will deshalb Ampeln auf die Lebensmittel drucken lassen, damit der Verbraucher rot sieht, wenn viel Zucker oder viel Fett in seinem Essen stecken.
Aus diesen Beispielen spricht nicht allein deutsche Regelungswut. Sie sind vielmehr typisch für eine Entwicklung in modernen Wohlfahrtsstaaten. Weil das Miteinander der Menschen im Wesentlichen gut und vernünftig geregelt ist, suchen sich Regierungen und ihre Bürokratien neue Betätigungsfelder.
Politiker kümmern sich um die kleinen Dinge
Weil der Versuch grundlegender Reformen allzu oft an den eingefahrenen Widerständen in Gesellschaft und Ökonomie scheitert, besetzt die Politik Randbereiche der staatlichen Fürsorge. Weil die Globalisierung der nationalen Gesetzgebung immer weniger Spielraum bei den großen Fragen lässt, kümmern sich die Politiker um die kleinen Dinge.
Gegen den Kindermädchen-Staat zu sein, wirkt fast immer herzlos. Denn während Freiheit und Selbstbestimmung abstrakte Werte darstellen, können die Advokaten der Fürsorge immer mit dem schrecklichen Einzelfall argumentieren: mit dem Alkoholiker, der sein Leben ruiniert und das seiner Familie; mit dem Fettsüchtigen, der nur mit einem Kran aus seiner Wohnung befreit werden kann; mit dem Mädchen, das sich im verzweifelten Glauben an ein Schlankheitsideal zu Tode hungert.
Und doch - all diese furchtbaren Schicksale sind Einzelfälle. Die allermeisten Deutschen können einigermaßen vernünftig mit Alkohol umgehen. Das Gros weiß, dass zu fettes und zu süßes Essen der Gesundheit schadet. Der Prozentsatz der amoklaufenden Konsumenten von Brutalospielen und -videos liegt im nicht messbaren Bereich.
Regulierungsrausch nützt wenig
Der Regulierungsrausch nützt also wenig, kann für die Politik aber schnell zur Last werden. Denn: glaubt der Staat für alles zuständig zu sein, wird er auch schnell für alles zuständig gemacht. Der umfassend vor sich selbst geschützte Bürger sucht die Schuld bei Dritten, wenn ihm klar wird, was er selbst geahnt oder gewusst hat: dass der Döner für 1,50 Euro aus vergammeltem Fleisch hergestellt wurde oder die billigen Riesengarnelen ihren Preis haben, weil sie mit Antibiotika verseucht sind.
Ist es wirklich sinnvoll, Dinge zum Kern von Politik zu machen, für die jeder selbst Verantwortung übernehmen kann? Schließlich steht auch nicht an jeder Straßenkreuzung eine Ampel, obwohl potentiell lebensbedrohliche Gefahren durch den Straßenverkehr drohen. Vernünftiger wäre es beispielsweise, auf eine bessere Schulbildung zu setzen.
Gebildete und informierte Menschen leben länger, rauchen weniger, essen vernünftiger, schlagen sich seltener die Köpfe ein. Sie sind außerdem ziemlich gut darin, die Werbung für den nächsten Schokoriegel, Tütenfraß oder Kräuterschnaps zu durchschauen und ihr zu widerstehen. "Die Leber wächst mit ihren Aufgaben", heißt ein Beststeller aus der Wunderwelt der Medizin. Der Bürger kann das auch.
(SZ vom 12.08.2008)